The Lost Books (1)

Vielleicht ist es ja das Alter. Ich fühle mich so nostalgisch irgendwie, sehne mich nach der guten alten Zeit. Wo ich nicht mal an die glaube – eigentlich.
Büchernostalgisch bin ich.
Mich zieht es dieser Tage zu den vergessenen, den verlorenen Titeln. Zu denjenigen, denen nicht wenigstens ein stilles Dasein auf der Backlist gewährt wird, wo sie in Kleinstauflagen und Restbeständen darauf harren, dass irgendwelche Spinner sie ab und an herauszerren aus ihrer Nachtschatten-Existenz. Nein, es sind diese Titel, die keiner mehr kennt, die keiner mehr will. Denen man mit Glück im abseitigsten Abseits des antiquarischen Buchhandels begegnet. Wenn – ich betone: wenn – man gezielt nach ihnen sucht. Bücher, die das nicht verdient haben. Weil sie nicht weniger gut oder klug oder zeitlos oder gefällig als manches zum Klassiker gewordenen Werk sind. Weil sie heute den Leser noch genau so berühren können, ebenso aktuell sind wie vor zig Jahren.
Um den elegischen Gedanken etwas entgegen zu setzen, möchte ich wenigstens eines dieser verlorenen Bücher aus den staubigen Regalen des Vergessens hervorkramen und hier vorstellen. Und weil wir uns hier auf einer Kinderbuchseite befinden, soll es ein Buch sein, das ich als Kind innig geliebt habe, das noch immer ganz weit vorne auf meiner ewigen Bestenliste rangiert:

hugo-josefine»Hugo und Josefine« von Maria Gripe

Josefine heißt eigentlich Anna, und das ist ganz falsch wie sie findet. Sie hat sich deswegen selbst einen neuen, ihren richtigen Namen gegeben. Als es eingeschult wird, ist sich das schüchterne und ziemlich einsame kleine Mädchen sicher, bald würde es sämtliche Kinder des Ortes kennen, ihre Spiele lernen und dazugehören. Doch es kommt nicht so. Denn Josefine ist anders. Nicht sehr, aber doch so, dass sie sich stets ein wenig von den anderen Kindern unterscheidet. Sie hat nicht die richtige Schultasche, ihre Halbschuhe sind verkehrt geschnürt, sie trägt Rock und Pullover, wo die restlichen Mädchen Kleider anhaben… Josephine muss erkennen, es ist schlimmer, etwas als ganz und gar anders zu sein. Sie wird in der Schule ausgeschlossen, gehänselt und schikaniert.
Bis eines Tages Hugo auftaucht. Hugo, der so völlig anders ist als jeder sonst, der trotzdem oder gerade deswegen voll innerer Stärke und Eigensinn steckt. Der die Welt auf seine eigene, auf eine kluge, besonnene und sehr, sehr weise Art betrachtet. Der überzeugt ist, hieße er nicht Hugo, so würde man doch nicht leichter mit ihm fertig. Hugo erobert alle (Kinder wie Erwachsene), er wird bewundert, ja fast schon verehrt. Und er wird Josefines bester Freund. Mit Hugo an ihrer Seite wird Josefine in Frieden gelassen, sie wird um einiges selbstbewusster, freier und findet Akzeptanz.

Die Geschichte von Hugo und Josefine wird in leisen, feinen Tönen erzählt. Um Freundschaft geht es da, um Liebe. Um das Dazugehören und darum, den eigenen Platz zu finden. Es ist eine – was zwar abgeschmackt klingt, jedoch passt – bittersüße Geschichte. Sie erzählt vom Zauber der Kindheit, aber auch von deren Schrecken.
Der Leser (auch der erwachsene) blickt in Augenhöhe mit den kindlichen Protagonisten auf die Welt, erfährt und begreift diese konsequent aus der Perspektive der Kinder. Maria Gripe gelingt dabei ein (in der Kinderliteratur leider seltenes) Kunststück: Niemals fehlt es dabei an Achtung und Respekt für diese Perspektive, nie wirkt sie gewollt oder erzwungen, nie unnötig naiv. Im Gegenteil, das ist meist eine zutiefst philosophische Betrachtungsweise, die man da findet. Und ganz oft eine, die von echtem Humor zeugt.

Sprachlich ist »Hugo und Josefine« sehr gelungen, hat Tempo, Witz, Farbe und einen gewissen Anspruch, streckenweise ist es einfach wunderschön formuliert. Auch mit ungefähr 50 Jahren auf dem Buckel wirkt das weder altbacken noch dröge.
Die Lebenswelten der 1960er Jahre im ländlichen Raum in Schweden sind natürlich andere als unsere heutigen, dennoch sind die Thematik und die Motive, die hier behandelt werden, zeitlos. Was damals Schikane war, nennt man heute Mobbing, manch einem von Josefines zappligeren Mitschülern würde man inzwischen ADHS diagnostizieren, und es werden eher Sticker als Glanzbilder auf Schulhöfen getauscht. Trotzdem: Die Mechanismen sind die gleichen geblieben. Und deshalb ist »Hugo und Josefine« auch für heutige Kinder ein interessantes, lohnens- und lesenswertes Buch. Das – nebenbei bemerkt – richtig viel Freude machen kann.

Die 2007 verstorbene Maria Gripe zählt in Skandinavien neben Astrid Lindgren immer noch zu den wichtigsten Kinderbuchautoren und – autorinnen. Ihre Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt, mit zahlreichen Auszeichnungen versehen. In vielen Ländern (den skandinavischen sowieso, aber etwa auch in England, Spanien, Italien, etc.) ist ein großer Teil ihres Werkes weiterhin regulär erhältich. Hier im deutschsprachigen Raum kennt heute kaum einer (selbst in meinem Alter) mehr ihren Namen, geschweige ihre Bücher. Das ist sehr schade.
Wie ich finde: Ein bedauerlicher Verlust.

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